Die von Judith Guest ins Visier genommene „ganz normale Familie“ besteht aus Vater, Mutter, Sohn.
Davor gab es Vater, Mutter und zwei Söhne.
Wer fehlt ist Conrads älterer Bruder – umgekommen vor zwei Jahren – und seitdem ist nichts mehr wie es war!
Conrad, die Hauptperson, lebt nach einem längeren Aufenthalt in der „Klapse“ – so ganz offensichtlich die Umgebungsdenke des jungen Mannes, der in einem Sanatorium mit allen Registern behandelt wieder in die „Normalität“ entlassen wurde – in dieser ganz normalen Familie.
Er bemüht sich selbstzerstörerisch in der Vergangenheit, sprich Gegenwart, wieder Fuß zu fassen, in der die doch einschneidenden Veränderungen keinen Platz, kein Recht auf Erwähnung haben.
„Der Morgen“, gleichzusetzen mit dem allerersten Versuch eines Neubeginns,
„ist keine gute Zeit für ihn. Zu viele Fragen …. soll er zuerst die Zähne putzen? Oder sich waschen? Welche Hose soll er anziehen, welches Hemd?“
Es gab …. „auch einige ergeizige Pläne, sein Leben in Ordnung zu bringen. Aber irgendwie sind sie ihm abhanden gekommen.“
„Am frühen Morgen ist das Zimmer sein Feind. Es ist ein gefährlicher Zeitpunkt, gerade aufgewacht zu sein. Wenn er aber von hier aus“ (vorm Haus in der Auffahrt stehend) „hinauf schaut, kommt ihm das Zimmer vor wie eine Zufluchtstätte. Er stellt sich vor, dass er dort sicher ist, sicher im Bett, die Decke hochgezogen, schlafend, ohne Bewußtsein.“
Je mehr Interesse ihm entgegen gebracht wird, desto mehr werden seine Reserven verbraucht, wird er erdrückt!
Conrad wartet auf seinen Rausschmiß; in der Schule, im Schwimmverein. In der Familie?
Er erwartet ihn voller Entsetzen, Angst. Was wäre die Konsequenz? Gebrandmarkt zu sein als Nicht Normaler unter Normalen? Als Abtrünniger in seiner Familie?
Rausschmiß bedeutet versagt zu haben, Versagen gehört nicht zu ?seiner? Realität!
Die Mutter, reserviert, beachtet ihn nicht.
Kühl, desinteressiert, perfekt in der äußeren Welt.
Im Inneren verzweifelt auf die Liebe, die selbstlose, alles verstehende Liebe ihres Mannes angewiesen, die sie in bezug auf den Sohn als Über Fürsorge dem Vater vorwirft.
Sie braucht ihn, den Vater, der Sohn erwartet zu viel von ihr, die selbst um Bestand und Perfektion ringt.
Er ist für sie das Demoklesschwert, das ständig über ihr schwebt und ihre äußere und innere Welt ins Wanken bringt.
Der Vater, ein Nach Denker. Er fährt lieber mit dem Auto als mit dem Zug.
„Beim Zugfahren hat er zuviel Zeit zum Nachdenken, hat er entschieden. Zuviel Nachdenken kann dich kaputt machen.“
Aber er kann dem nicht entfliehen: Was hätte es ändern können, den Selbstmorversuch des Sohnens, den Tod des anderen Sohnes? Was ist sein eigener Part und was tun, um es nicht noch einmal so weit kommen zu lassen?
„Und wer kann helfen? Schwere Depression, akute Selbstmordgefahr …. Eine Vier – Worte Diagnose. Gibt es auch ein Vier – Worte Heilverfahren?“
„Wie wird man mit der Trauer fertig? Es gibt kein Fertigwerden, nur das sture, verbissene Ausharren, bis es vorüber ist.“
Auch er war Perfektionist, früher, bis er herausgefunden hatte, daß weder ein makelloses Haus, eine Mitgliedschaft im besten Club der oberen Gesellschaft noch Macht, noch Wissen, noch Güte, „noch sonst irgendwas“ einem vor dem wirklichen Leben schützen kann. „Daß der Zufall, und nicht die Perfektion die Welt regiert.“
Illusion oder Realität?
Seine Liebe schützt seine Frau vor der Realität, begibt sich mit ihr in die Illusion der Perfektion.
In diesem Konstrukt erhält Conrads zentrale Frage Gewicht und Berechtigung: „Wie soll man denn weitermachen können, wenn keiner etwas erwähnt, wenn jeder sich bemüht, es nicht zu erwähnen?“
Kann der Psychiater – oder soll ich ihn besser ´Freund, Verbündeter, Wissender`nennen -, kann er Conrad helfen?
„Das ist der Trennungspunkt zwischen den Kranken und den Gesunden. Echte Probleme, echte Lösungen, klar?“
„Um die Gefühle kennen und damit umgehen zu lernen, muß man sie heraus lassen und sich anschauen. Und wenn du denkst, das kostet zuviel Energie – es ist nur ein Bruchteil dessen, was du brauchst, um sie ständig unter Verschluß zu halten.“
Vielleicht muß man sich manchmal ekelhaft fühlen, damit man sich danach besser fühlt.“
Vielleicht ist das die Erklärung dafür…„daß Depressionen nicht aus Schluchzen und Sich-Gehen-Lassen bestehen, sondern schlicht und einfach aus einem Abbau der Gefühle ….Jeder Art von Gefühlen. Leuten, die den Kopf immer steif halten, fällt es verdammt schwer, zu lächeln.“
Das Leben ist nicht immer fair oder vernünftig, oder dies oder das – es ist einfach!
Verlag Volk und Welt Berlin, Titel der Originalausgabe: ORDINARY PEOPLE, erschienen bei The Viking Press, Inc., New York 1976
Aus dem Amerikanischen von Karin Polz
L.N. 302,410/108/79