„Ein Roman über die Macht der Bücher, die Liebe und die Magie des südlichen Lichts.“
So steht es auf dem Umschlag meines zur Zeit Lieblingsbuches. Es hat mich verführt, berührt und gewärmt mit sanften und doch so kräftigen Worten. ´Gewalt` erhält hier einen anderen Sinn. ´Macht`entpuppt sich als etwas, was ihre …losigkeit vertreibt und der Schwere der Ohnmacht zur Leichtigkeit des Fliegens verhilft.
Dieser Beitrag, lieber Leser, ist länger als gewohnt.
Sei also schon mal vorgewarnt und richte Dir ein gemütliches Plätzchen wenn Du vor hast, Dich darauf einzulassen.
Kürzer fassen ging nicht. Auch in dieser recht ausführlichen Besprechung ist schon viel zu viel verloren gegangen. Ich konnte einfach nicht noch mehr loslassen. Willst Du Dich also ganz berühren, ganz verzaubern lassen, dann lies den Roman.
„Erinnerungen sind wie Wölfe“, schreibt Nina George. „Du kannst sie nicht wegsperren und hoffen, dass sie dich ignorieren“. ´Wie gut`, möchte ich ausrufen. Ohne diese Wölfe hätte Perdu, der Held des vorliegenden Leseschatzes, niemals seine uns verzaubernde Reise angetreten.
Sie alle, die wir beim Lesen treffen, sind Helden. Lebenshelden und solche der Selbstbestimmung, des sich Selbsttreubleibens.
Perdu aber ist der rote Faden. Der Kapitän des Bootes, das er durch magische Gedanken und eine magische Landschaft steuert.
„Manchmal schwimmt man in ungeweinten Tränen und geht darin unter, wenn man sie in sich behält“.
Zwanzig Jahre hat Perdu sich am „Grunde eines solchen (Tränen)Meeres“ befunden. Er hat seine „Bücherapotheke“, Sitz auf dem Boot, zum Wohle anderer geführt. Die Diagnose der Lesewilligen selbst gestellt, die Rezepte selbst ausgeschrieben und seine Medizin, das passende Buch, selbst vergeben. Nur für sich hat er ausgewählt was nicht heilen, nur verdrängen und ihn auf dem Grunde seines Tränenmeeres halten konnte.
„Bücher bewahren Sie vor Dummheit. Vor falscher Hoffnung. Sie kleiden Sie aus mit Liebe, mit Stärke, mit Wissen. Es ist Leben von innen“.
Nanu, Perdu, und warum selbst nur den ersten Teil dieser wunderbaren Macht nutzen? Das Bewahren vor Dummheit und falscher Hoffnung läst nur noch den Tod, wenn die Lebendigkeit der Liebe, das Vertrauen der eigenen Stärke und der Schatz des Wissens fehlt.
Warum wolltest Du nicht leben in all den Jahren?
Perdu fragt sich, wie sich das wohl anfühlte, so intensiv wie einer seiner Mitschipper zu empfinden und trotzdem zu überleben.
Sterben kann jeder. Aber leben?
Ahnt er es schon, unser Held?
Spürt er den Wunsch nach Leben?
Nach Fülle, Buntheit, Weite, Höhen und Tiefen?
Da ist sie, die Ahnung. Steht vor der Tür, bereit anzuklopfen und um Einlass zu bitten.
„Es gibt Bücher, die sind für eine MIllion Menschen verträglich. Manche nur für hundert. Es gibt sogar Arzneien, pardon Bücher, die nur für einen einzigen Menschen geschrieben sind“.
Perdu ist kein Heilpraktiker, kein Psychologe und mit der Schulmedizin hat er nichts am Hut.
Mittels seiner Gabe, der „Durchhörsicht“, stellt er seine Diagnosen und verordnet das entsprechende Lesematerial.
Zuhören, Zusehen und durch das Äußere hindurch schauen.
„Bücher sind wie Menschen, Menschen sind wie Bücher. Ich sage Ihnen wie ich es mache. Ich frage mich: ist er oder sie die Hauptfigur ihres eigenen Lebens? Was ist ihr Motiv? Oder ist sie eine Nebenfigur in ihrer eigenen Geschichte? Ist sie dabei, sich selbst aus der eigenen Story wegzukürzen,…“.
Aber es gab auch Einige, da klappte es nicht mit der Durchhörschau.
Vor allem bei ihm selbst. „Seit er das verbotene Zimmer (das Lavendelzimmer) geöffnet hatte, verschob sich etwas. Es ging ein Riss durch sein Panzerglas, mehrere harfeine Risse, und es würde alles auseinanderbrechen, wenn er sich nicht wieder fing.“
Steht hier etwa schon das Leben selbst, neben der Ahnung vor der Tür?
Und haben beide vielleicht sogar schon angeklopft?
Perdu sammelt „Leuchtwörter“. „Jene Wörter, die im Strom der Allgemeinheit leuchtend auftauchen“. Mit ihrer Hilfe verordnet er das entsprechende Buch. Auch sein eigenes Buch hat er schon gefunden. Der Autor unbekannt. Ein Pseudonym.
Aber konnte er sich selbst zuhören?
Seine eigenen Leuchtwörter erSPÜREN? ErLEBEN? Würde er die Tür für das Leben öffnen, wenn er schon der Ahnung durch einen Spalt die Sicht in sein Inneres gewährte?
„Oft prägen nicht wir die Worte, sondern die Worte, die wir häufig benutzen, prägen uns“. So auch die Gedanken?
Nun lernen wir endlich Manon kennen. Manon, die er vor 7216 Nächten das letzte Mal gesehen, gespürt, gerochen hat. Manon, „die kraftvolle, niemals niedliche, niemals perfekte Provenzialin. Die in Worten sprach, die er anfassen zu können glaubte. Sie plante nie. Sie war immer ganz da.“ Aber nach dieser, nun vergangenen 7216ten Nacht war sie fort. „Sie sprach beim Hauptgang nicht über das Dessert, beim Einschlafen nicht über den Morgen, beim Adieu nicht über ein Wiedersehen. Sie war immer ein jetzt“. Und jetzt war sie fort!
„Wer verlassen wurde, musste durch Schweigen antworten. Er durfte dem, der ging, nichts mehr geben, musste sich verschließen, so, wie der Andere sich einer Zukunft verschloss. Ja, genauso war das“.
Aber, Perdu, stimmt das wirklich? Was ist mit dem Brief, den du durch Zufall nach 20 Jahren in den Händen hälst und den du dich vorerst nicht zu öffnen wagst? Belehrt er dich vielleicht eines Anderen? Rührt er an deinen zu Stein komprimierten Gefühlen, von der Angst bewacht im Kerker deiner selbstgewählten Einsamkeit?
„Erstaunlich, wie wenig es Menschen beeindruckt, dass sie geliebt werden, wenn es nicht in ihre Pläne passt. Die Liebe ist ihnen dann so lästig, dass sie die Türschlösser austauschen oder ohne Vorwarnung fortgehen“.
Manon, war das auch deine Intension? Oder doch eher deine, Perdu? Das, was dir zwanzig Jahre steinerne Distanz beschert hat?
Im Gespräch mit einer seiner ´Patientinnen`, die zuvor die für sie falsche Medizin ausgesucht hatte, erfährt Perdu ihre wahre Erkrankung. Die Suche nach ihrer eigenen Identität. Nach dem, was sie konnte, bevor sie ihren Mann traf.
„Vor…, vor dem, was passiert ist, war ich die Assistentin, Sekretärin, Pressetante und Bewunderin meines Mannes“.
Nun ist sie mit suchen beschäftigt. Mit dem Versuchen, ob sie das noch kann, was früher war.
Sie erkennt, versteht und teilt es Perdu mit: „Ich fühle mich heute, mit achtundvierzig, wie mit acht. Ich habe es damals gehasst, ignoriert zu werden und war gleichzeitig völlig verstört, wenn mich mal jemand ein bisschen interessant fand“. „Ich wollte immer von den größten Egoisten beachtet werden. Die Anderen waren mir gleichgültig,…“.“Ich bin achtundvierzig, ich fange noch mal an, alles wieder zulernen“.
Auch sie hatte ihr Leben draußen vor der Tür stehen lassen. Hatte sein leises Klopfen überhört.
Gab es also noch andere wie ihn?
20 Jahre lang.
War er nun bereit, Manons Brief zu öffnen?
„Natürlich nicht“.
„Er brach das Siegel, roch an dem Papier, roch lange. schloss die Augen und senkte für einen Moment den Kopf“.
„Dann setzte sich Monsieur Perdu auf den Bistrostuhl und begann Manons einunzwanzig Jahre alten Brief an ihn zu lesen“.
Der Brief erzählt Perdu eine für ihn unglaubliche Geschichte und lässt ihn zweifelnd und im Hader mit sich selbst zurück.
Das Klopfen wird lauter, fordernder und der Türspalt wird größer.
So groß, dass die Ahnung, einen Teil des Lebens an der Hand haltend, hereintreten kann.
Leinen los, in der Erinnerung an SEIN Buch, in dem der Autor schreibt, “ dass man über das Wasser in den Süden fahren muss, um Antworten auf Träume zu bekommen. Und dass man sich dort wieder finden kann“.
„Ich komme, murmelte Jean Perdu. Ich komme, Manon“.
Auf seiner Reise über den Fluss gen Süden spürt Perdu immer stärker den Frieden, den Duft und die Ruhe der Landschaft. Er wird geradezu „durchströmt“ davon und erfährt eine „ungeheure Erleichterung“.
Hier setzt die Autorin das Erleben und Aufnehmen der äußeren Ruhe mit dem Erleben und Zulassen der inneren Ruhe gleich. Je intensiver das Nichtvorhandensein künstlichen Lärms und das Duften der Natur in Jean Perdus Wahrnehmung Einzug hält, desto (be)sinnlicher und weiter öffnen sich Körper und Seele und leicht, immer leichter wird es ihm ums Herz.
Aus dem Vollen schöpfend, gibt er mit vollen Händen und Sinnen weiter und hat doch immer noch genug für sich selbst.
Endlich kann er sich an Manon erinnern, ohne zusammenzubrechen.
An Szenen aus ihrem Leben, in Worte gefasst, damit er sie verstünde.
„Nein, Jean. Nein. ich will es (ein Ende ihrer Beziehung zu ihrem Verlobten) mir nicht antun. Luc würde mir fehlen.
Seine Bedingungslosigkeit. Ich will ihn. Ich will dich. Ich will den Norden und den Süden. Ich will Leben mit allem, was Leben ist! Ich entscheide mich gegen das Oder und für das Und“. Und nun verstand Perdu.
„Verzeih mir, Manon. Verzeih mir. Ich war jung, dumm und eitel“.
Unser Held beginnt sein Inneres wahrzunehmen. Zu zeigen.
Gleichzeitig räumt er Entwicklungsmöglichkeiten ein: „Keiner würde klug werden, wenn er nicht irgendwann jung und dumm gewesen wäre“. Nur so präsentiert sich uns die Möglichkeit der Wahl und somit letztendlich die der Freiheit.
Bravo, Perdu! Niemals die Seele aus dem Blick lassen. Sie und unsere materielle Existenz bilden eine Einheit und werden ihre Lebensweisheit, ihren persönlichen Weg, stets in Abhängigkeit voneinander gehen und wahrnehmen.
Perdu befindet sich, nach 20 langen Jahren auf dem Weg der Wahl.
Endlich die Wahrheit zulassen. Endlich die Akzeptanz auch von Schmerz, wenn dieser dazugehören sollte. „Es war, als sei er durch eine Tür der Angst gegangen und habe zu seiner Überraschung feststellen müssen, dass hinter dieser Tür nicht der Abgrund wartet – sondern weitere Türen, helle Flure und freundliche Räume“.
Im Tango findet Perdu für kurze Zeit Erfüllung. Der Tanz zeigt ihm die Lebenshaltung des Tanzenden. Seinen Auftritt in der Welt.
Im Tango erfährt er alles gleichzeitig, die Vergangenheit und die Gegenwart, und kann es durch die Bewegung erkennen und bewältigen.
In einem Gespräch mit Cudeo, der unterwegs zwanglos mit an Bord gekommen war, macht sich Perdu Gedanken über die Bedeutung der Gewohnheit im Leben: „Sie ist eine gefähliche, eitle Göttin. Sie lässt nichts zu, was ihre Regentschaft unterbricht. Sie tötet eine Sehnsucht nach der anderen“. „Sie verhindert zu leben, wie man will. Weil wir aus Gewohnheit nicht mehr nachdenken, ob wir noch wollen, was wir tun“.
„…und wenn die Schatten in die Kindheit ihrer Besitzer zurückkehren, um dort einiges in Ordnung zu bringen…“.
„Wunderbar, dachte Jean. Ich schicke meinen Schatten zurück in die Zeit und lass ihn mein Leben in Ordnung bringen. Wie verführerisch. Wie leider unmöglich“.
Hier muss ich Dir widersprechen, Jean Perdu! Manchmal ist es möglich. Ich habe es selbst erlebt.
Perdu ist bereit für den Abschied. „Abschied von Gewohnheiten.
Abschied von Illusionen. Abschied von einem Leben, das längst vorbei und indem man selbst nur eine Hülle war, in der sich ab und an ein Seufzer regte“. Und je größer seine Bereitschaft, desto größer wächst auch das zarte Pflänzchen seines Begehrens und seiner Liebe zu Catherine – ohne in ein Vergessen um Manon abzugleiten.
Als er beschließt, sein Schiff, seine Bücherapotheke, seine Vergangenheit in die Hände von Cuneo und Samy zu legen, flüstert Samy, Cuneos große Liebe und wie er, zwanglos in die Schiffergemeinde aufgenommen, Perdu ins Ohr: “ Weißt du, dass es zwischen Ende und Neuanfang eine Zwischenwelt gibt? Es ist die verwundete Zeit, Jean Perdu. Sie ist ein Moor, und darin sammeln sich Träume und Sorgen und vergessene Absichten. Deine Schritte werden schwer in dieser Zeit. Unterschätze diesen Übergang nicht, Jeanno, zwischen Abschied und Neubeginn. Las dir deine Zeit. Manchmal sind solche Schwellen breiter, als man in einem Schritt gehen kann“.
Offen für seine Umgebung und immer mehr auch für die Menschen, die er trifft, beobachtet Perdu ein Paar mit Kind. Das Kind stellt viele Fragen und erhält die häufige Antwort „dafür bist du noch zu klein. Das erkläre ich Dir, wenn du groß bist“. Dabei denkt sich Perdu: „Ich persönlich glaube, es gibt keine Frage, die zu groß ist. Man muss nur seine Antworten anpassen“.
Dem möchte ich aus vollem Herzen zustimmen!
Ein Buch der Weisheiten. Nicht abgeklärt und dominant. Eher erfühlt, erlebt und mit staunender Liebe in sich aufgenommen.
2013 Knaur Verlag
ISBN 978-3-426-65268-8