Was ich unbedingt noch erzählen wollte

Meine erste Beurteilung des von Florian Illies zu Papier gebrachten Werkes: eine bessere Illustrierte – man beachte Illies und Illustrierte -, Promi – Klatsch und – Tratsch in gehobenem Stil.

Ich denke immer noch: genau das ist es auch!
Aber plötzlich hat es mich gepackt und faszinierende Gedanken haben sich mir aufgetan,
vor allem beim Verzehr der Herbst Geschichten.

Das 271 Seiten lange Promi – Special ist aufgeteilt in Ereignisse vom Winter 1913, Frühling, Sommer und Herbst – in dieser Reihenfolge.

Warum mich der Herbst besonders fasziniert hat? Wenn ich jetzt ein Emoticon zur Verfügung hätte, würde ich Euch eines von der Dame mit den hochgezogenen Schultern präsentieren, sprich: „Weiß auch nicht.“
Vielleicht, weil ich mich auch gerade in dieser tollen, bunten Jahreszeit befinde, mit den Lebensjahren, den Erfahrungen und dem aktuellen Zusammenführen, der Quintessenz also aus allem bisher Gelebten.

Dazu ein Satz aus dem vorliegenden Buch, den ich passender nirgendwo finden kann und der sowohl das Große Ganze des gesellschaftlichen Lebens als auch den individuellen Mikrokosmus jedes Einzelnen wunderbar umfasst: „Es ist immer nur ein wenig, was der Welt zur Erlösung fehlt.“ Aber, es fehlt halt und niemals scheint es sich einzufinden, zur Vervollkommnung, das Kleine, das Wenige was fehlt.
Vielleicht spürt das auch Kafka mit seinem starken Widerwillen gegen die Gedichte – und letztendlich auch gegen die Frau – Else Lasker – Schüler, die ihn seine Verklemmungen wohl zu stark spüren lassen. Angesichts der „rohen sexuellen Energie“, die diese Frau versprüht, empfindet er nur „Leere und Widerwillen“.

Und immer wieder Proust! Auf seiner „Suche nach der verlorenen Zeit“ durchzieht er alle vier Jahreszeiten, stets mit neuen Korrekturen, Umformulierungen, korrigierten Korrekturen und umformulierten Umformulierungen.

Man höre und staune, ADHS und Burnout gab es auch schon 1913! Die Bezeichnung allerdings wohlklingender, melodiös gar – Neu ras the nie -, „das war das Zauberwort 1913“ …, „ein so wunderbar undefinierter Begriff für jedwedes psychosomatische Unwohlsein“ …unter den sich außer Kafka und Rilke auch Musil und Egon Schiele stellten – „und all die großen leidenden Frauen des Jahres natürlich ohnehin.“
„Haste nie und raste nie, sonst hast du die Neurasthenie.“
Tja, ´geflügelte` Worte gab es damals wohl auch schon!

Kann man den 5. April 1913 – sieh an, da ich dies notiere, haben wir gerade den 2. April 2019, also ziemlich genau 106 Jahre später – als den Beginn des Atomzeitalters bezeichnen? Der Autor tut es!
Außerdem erfahren wir von ihm „wenn Revolutionäre entspannen, dann sammeln sie Blumen“ und erhalten Einblick in Rosa Luxemburgs „Oktav – Heft“, ihr kleines, sorgsam zusammengestelltes Herbarium.
Und gleich denke ich an meinen Garten mit seiner wohltuenden Wirkung, wenn der Kopf sich leerfegt von Sorge und schweren Gedanken, sich nur noch an neuen Setzlingen und bunten Blüten erfreut und die Hände in fetter Erde wühlen oder einen vom Austrocknen bedrohten Regenwurm in schattigere Gefilde katapultieren.

Hoppla, auf einmal befinden wir uns schon mitten im Sommer und ich frage mich manchmal beim Lesen „woher weiß er das?“ und „kann man sowas überhaupt recherchieren?“
Auf jeden Fall recherchiert ist die Geschichte mit der Lok, die plötzlich von einer Brücke ins große Nichts fährt, halb über der Ems hängt und damit zum „Bild des Jahres 1913“ wird.
Übrigens gut zu finden im Internet unter >25.07.1913 – Eisenbahn – Unglück auf der Emsbrücke bei Hilkenborg<.
Sie sehen, liebe Leser, das Druckwerk regt zu eigener Recherche an.

Ich könnte schreiben schreiben schreiben aber Sie sollten lieber lesen lesen lesen und deshalb komme ich jetzt so langsam zum Ende der Appetit – Anregung auf dieses köstliche Geschreibe und siehe da, sogar einen weiteren Beweis für die vom Autor erfolgte Recherche habe ich gefunden und ausgerechnet von der Mutter von Ernest Hemingway stammt er!

Etwas noch zum Herbst, dem anfangs besonders erwähnten: rühme ich mich doch, der gelobten, verhassten, geliebten, gefürchteten…jedenfalls als solche in die Geschichte eingegangenen 68er Generation anzugehören und war bis dato unbeirrbar in dem Glauben, hier die ersten Befreiungs-, Aufbegehrungsversuche miterlebt zu haben, eine Andersartigkeit der jungen Generation wie nie zuvor – man lese den letzten Teil des Buches und werde eines Anderen belehrt.

Schon 1913 gab es die Musik – Revolution, es gab Spiritualismus, Kommunen, vegetarische, vegane und hippiähnliche Verhaltensweisen und die Sehnsucht nach und der Ausdruck für Freiheit war riesengroß und mindestens genauso wild und ungezügelt wie in den 68 ern. Und schauen wir uns Bilder von Karl Wilhelm Diefenbach an glauben wir gerne, dass er als „Urvater der Alternativbewegung“ gilt und lesen wir weiter über ihn, mag Rainer Langhans vielleicht nicht direkt aber doch ein wenig als Abklatsch anmuten, eine Wiederholung des längst da Gewesenen.

Wir hätten uns vielleicht doch mit unseren Großeltern verbinden sollen!

Verlag S. Fischer, 24. Oktober 2018