Dieser Roman von Lionel Davidson beschert mir während des Lesens drei Geschichten, die mich, jede für sich, aber auch im Gesamtbild, mit menschlichen, geschichtlichen und politischen Informationen versorgen wie sonst selten erlebt, und dazu eine liebvolle, für alles offene und wertschätzende Geschichte formen.
Eine ganz neue, nie gesehene Art Gazelle wird in den 50er Jahren entdeckt und sofort wieder aus den Augen verloren.
War es ein Trugbild? Das besondere Geweih, die spezielle Größe?
„Eine Ziege“, denkt Hamud zuerst, von dem merkwürdigen Tier in den Bauch gestoßen, „so daß er stürzte.“
„Aber es war keine Ziege.“ „Es sah aus, wie eine Gazelle“, und das bedeutet Fleisch. Als er jedoch sieht, dass die Gazelle trächtig ist, steckt er sein Messer weg.
„Warum sich mit einer Gazelle zufrieden geben, wenn man zwei haben kann?“
Hamud, ein der Blutrache folgender Beduine, nimmt auf seiner Flucht in die Einsamkeit die Tiere in seine Obhut und vermehrt sie zu einer schier unendlich großen Herde.
Das Land, durch das sein Weg ihn führt, konnte nicht Jordanien sein, da es nicht südlich genug lag.
„Dann war das wohl Palästina mit den wütigen Juden, die es eingenommen hatten.
Der Anwalt aus Homs hatte ihnen erzählt, wie die Juden die Einwohner abgeschlachtet und ihnen das Land gestohlen hatten.“
Allein im unwegsamen Gebiet, welches sein neues zu Hause stellt, ist Hamud der Schöpfer, der das Land seinen Lebensnotwendigkeiten und denen der Tiere anpasst.
„Er sah alles, was er bisher getan hatte, und er sah, daß es sehr gut war. Dann eilte er heimwärts, der nächsten Schöpfungsphase entgegen.“
Der Aufbau der Kibbuze ist schwierig und nicht immer von direktem Erfolg gekrönt.
Amos, „der große Schwimmbadbauer“ fällt im Sechstagekrieg. Ihm verdankt der Kibbuz das Schwimmbad für die große Reinigung, finanziert durch die Baumwolle, die mit einem Kredit, einer Menge Arbeit und einer guten Portion Glück zum erfolgreichen Geschäft geworden war.
Jonathan, ein Junge aus dieser, der Kibbuz eigenen Homogenität entwischenen Genossenschaft, entdeckt auf seinen Streifzügen sowohl Hamud als auch seine besondere Herde. Ein Wunder erscheint es dem Kind und mehr noch dem erwachsenen Hirten, der, nur noch ein Auge und mit abgerissenem Ohr, in dem herbeigewünschten Besuch einen Boten Gottes vermutet.
Endlich wird ihm die lang ersehnte Aufgabe in seinem neuen Leben offenbart.
Jonathan übernimmt die ihm angetragene Rolle und macht das Wunder zu seinem Spiel.
Betrug? Geringschätzung des alten Mannes? Vielleicht aber doch Sinn gebend und Wärme spendend in dem gemeinsamen Ziel „die Gazellen sollen eines Tages das heilige Land bevölkern, wenn die Menschen aus ihm verschwunden sein werden.“
Wir erfahren beim Lesen etwas über die Rolle der Russen und der Ägypter im Krieg um das gelobte Land und wir erfahren etwas über alte Männer mit ihrem überlieferten Glauben und den Jungen, die nur ihr eigenes Spiel, das, was sie sehen und fühlen, der Realität zuordnen und wir können uns auf einmal vorstellen, dass Beides sich irgendwann einmal nicht mehr gegenseitig ausschließen oder gar zerstören muss.
„Der Sinai kennt seit vierzig Jahren immer wieder Krieg. Trotzdem ist er zwischen Chaos und Haß ein Paradies für Mensch und Tier geblieben. Lionel Davidson hat dort seine eindringliche, subtile Parabel über Liebe, Mitgefühl und Toleranz angesiedelt. Die Geschichte von Menschen, die sich auf verschiedenen Wegen auf die Suche begeben haben nach einem Traum, der so alt ist wie die Menschheit selbst: Frieden.“
Die Originalausgabe ist unter dem Titel „Smith´s Gazelle“ bei Jonathan Cape, London, erschienen.
Deutschsprachige Ausgabe 1989 im Blanvalet Verlag München
ISBN 3-7645-3515-6