Der Wal und das Ende der Welt

„Dieses Buch gibt einem den Glauben an die Menschheit zurück.“ So schreibt die <Elle> über den Roman von John Ironmonger.

Ein Roman, ja, aber es ist wohl auch ein Traum, ein Traum all derer, die nicht erobern, unterdrücken, besser sein als, mehr haben, mehr sein wollen und fast platzen vor Wut und Hass auf die, denen es vermeintlich besser geht und die nicht in Selbstmitleid und zu Agression gewordener Angst leben.

Ojeh, jetzt hätte ich dem letzten Satz beinahe ein „müssen“ angefügt, dabei wissen wir doch, dass keiner muss und sich jeder entscheiden kann und dies auch letztendlich tut und sei es nur auf die Art, sich dem anzuschließen, der die selbst gedachten Worte ausspricht, die Knöpfe drückt, die man im Verborgenen glaubt, sprich dem, der gezielt und in diesem Sinne äußerst gekonnt Stimmung macht.

Ein wunderbares Zitat dazu aus „Leviathan“ von Thomas Hobbes finden wir auf dem hier vorgestellten Buch noch vor dem eigentlichen Prolog:
Was daher auch immer aus einer Zeit des Krieges folgt,
in der jeder eines jeden Feind ist…
dann ist kein Platz für Fleiß und Ackerbau…
es gibt keine Wissenschaft, keine Zeitrechnung, keine Künste, keine Literatur, keine Gesellschaft.
Und was das Schlimmste ist: Es herrscht stetige Furcht und die Gefahr eines gewaltsamen Todes.
Das Leben des Menschen ist einsam, armselig, garstig, brutal und kurz.

Wollen wir das?

„>Was würde passieren<, fragte er, >wenn wir unsere Annahme über die menschliche Natur ändern würden?<“ Und genau das tut Joe, Joe, der mit dem Wal kam und wir erinnern uns mit den Bewohnern von St. Piran an das >stille Nacht, heilige Nacht<, dass jedes Jahr wieder zum Fest des Wales draußen am Fels erklingt. „Selbst jetzt noch, ein halbes Jahrhundert später, ist der Zauber dieses Augenblickes ungebrochen“, der Zauber um die höchste Menschlichkeit….
Quatsch! Was soll das sein, die höchste Menschlichkeit?
Sind wir Menschen, dann sind wir menschlich, verfügen über Menschlichkeit und nur über diese, denn Tierischkeit gehört zu einer anderen Kreatur.
Also, die Menschlichkeit ist unsere, ganz simpel, einfach zu uns gehörend, nicht zu beugen im Sinne von gut, besser am besten…

Seufz! Da es mir leider nicht gelingt, die Permanenz meiner Träume aufrecht zu erhalten, verwende ich ruhig weiter den mir im Wissen um die Realität ins Ohr geflüsterten Begriff von der „höchsten Menschlichkeit“ und diese Auszeichnung erhält nun Joe und einige andere um ihn herum so dass die wieder Anderen gar nicht anders können als einfach mitzumachen.
Uff! Und jeder profitiert auch noch davon! Ein ganzes Dorf wird gerettet, eine Insel, vielleicht die ganze Welt?

Dann lasst uns doch mal schauen, wie sowas geht. Vielleicht können wir das ja auch!?
Wenn ich dieses Buch lese, bin ich davon überzeugt.
Wir tratschen und klatschen, verleumden und kichern hinter vorgehaltener Hand, das machen unsere Protagonisten, also ganz normale Menschen, auch.
Vor allem, wenn es um Joe und Poly geht. Polly, die schöne Pastorenfrau, die gerne flirtet, sich verführerisch gibt und die Gesellschaft „gutaussehender junger Männer“ genießt. „Das halbe Dorf dachte, sie würden es treiben wie die Kaninchen.“
Natürlich wollte er sie. „Das war immerhin die Wahrheit. Er wollte sie wirklich.“ Aber ist es tatsächlich die Wahrheit, wenn genug Menschen daran glauben? Funktioniert so nicht eher ein Algorithmus?:

Nehmen Sie die Meinung einer bestimmten Anzahl von Menschen. Ermitteln sie deren Durchschnitt und schon haben Sie die Wahrheit?

Dass wir keine Tiere sind wurde schon klargestellt, aber sind wir vielleicht Algorithmen? Die meist geäußerte Meinung ist die wahrhaftige?

Uijuijuih! jetzt wird mir ganz schwummerand. „Die ganze Welt kann sich irren.“

„Ein Bericht von Jona und dem Wal befindet sich sowohl in der Bibel als auch im Koran.“
Und hier wie da wird Jonas gerettet von einem Wal, nachdem er sich freiwillig bei stürmischer See für seine Mitbesatzung als Opfer darbringt.
Sind wir uns vielleicht doch ähnlicher als gedacht? Wenn es auf beiden Seiten sogar Jene gibt, die sich für Diese opfern, wenn es sowohl hier als auch da Menschen gibt, die gemäß ihrer Menschlichkeit handeln?
Vielleicht fallen wir einfach immer wieder auf die verschiedenen Algorithmen herein, je lauter sie sind und je mehr Gefolge sie ansammeln, unterstellen ihnen unser eigenes Urteil, wollen nicht mehr selber schauen, prüfen, denken.
Mein Tipp:
Bleiben wir doch einfach in unserem eigenen Kopf, mit unserer eigenen Menschlichkeit – der allerallerhöchsten!

Erschienen bei S. Fischer 2. Auflage März 2019
Aus dem Englischen von Tobias Schnettler und Maria Poets
Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel „Not Forgetting the Whale“ bei Weidenfeld & Nicolson, einem Imprint von Orion Books Ltd.,London

ISBN:978-3-10-397427-0