Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften

„Keiner liebt mich“,so heißt es in dem Buch von Irmgard Keun, „und keiner verbietet mir was, – ich darf alles tun, was ich will.“ Jetzt, wo das neue Kind da ist!
So traurig ist das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren dürfen,
so traurig, dass es sich wie tot anfühlt.
Aber ist es nicht auch wie tot, wenn keiner einen mehr wahrnimmt? Wenn selbst die schlimmsten Streiche nicht mehr geahndet – ja, nicht einmal mehr wahrgenommen werden? Natürlich wollen sie sie weghaben, jetzt, wo sie ein neues Kind haben. Sie wollten sowieso immer ein artigeres Kind und außerdem wäre ein Junge auch viel besser gewesen. Jetzt bleibt nur noch der Friedhof. Hier liegt die Großmutter. Die Großmutter hat sie lieb gehabt, aber jetzt ist sie tot.

Der Wutteufel begleitet das Mädchen, ist immer an seiner Seite, immer bereit, es zu unterstützen, wenn die Tränen kommen, die das Mädchen nicht weinen will.
Der Wutteufel bringt Schande über die Familie, meint der Vater. Aber sie kann ihn nicht wegschicken. Braucht ihn zum Atmen, zum Weiterleben.

Das Mädchen erinnert sich an den französischen Gefangenen. Sie beobachtet ihn beim Umgraben und sie bedauert ihn: „Ich möchte nie gefangen sein, lieber Gott, und nicht nach Hause können.“ Zu Hause, das ist die Mutter, die ihr Gespräche schenkt „unter Frauen“, die sie versteht, manchmal, mit dem Herzen.

Dieses Buch ist voll schwarzer Pädagogik und unfassbar sind die Interpretationen der Erwachsenen, die sie den Kindern angedeien lassen. Grenzenlose Ängste, Schuldgefühle und Selbsthass werden erzeugt aufgrund von Unwissenheit, eigenen Ängsten und der Härte der Zeit. Kinder sollen angepasst sein, am Besten nicht zu sehen und zu hören, auf keinen Fall Anteilnahme und Einfühlungsvermögen erwarten oder gar erwecken!
Wen wundert´s, wenn ein Großteil dieser Kinder sich weiterhin gegen Gefühle wehrt und Reden schwingt wie: „uns hat ein Klapps auch nicht geschadet“ oder „ein Junge weint nicht“ oder „hab Dich nicht so“!
Kriegs- und Nachkriegskinder hatten sich zu fügen, unsichtbar zu sein und zu gehorchen, ohne irgend eine Vorstellung davon, warum gerade dies oder jenes von ihnen verlangt wurde. Waren die Erwachsenen diese Zeit wirklich so dumm und boniert, ohne Vorstellung, Interesse dafür, was dies mit Kindern und somit den späteren Erwachsenen anrichten könnte? Hatten sie vergessen, dass sie selbst einmal Kinder und jetzt schon Produkte einer solchen Erziehung waren oder wollten sie nicht wahrhaben, was mit ihnen geschehen, gemacht, verbrochen worden war?

Zwar in der Vergangenheit geschrieben, doch immer wieder und durchgängig aktuell. Verdrängen, nicht wahrhaben wollen und immer weiter falsch handeln und alles Übel mitschleppen in jeweils veränderter oder auch genau derselben Form.
Sind wir Menschen wirklich so? Ist das unsere Bestimmung, unser einziges Können? Ist die Gabe zur Selbst- und Fremdreflektion tatsächlich nur schmückendes Beiwerk und einzig gut genug uns darzustellen und selbst zu beruhigen? Das wäre doch wirklich soooooooo schade. Diese Vergeudung an Materialien, Möglichkeiten, die wir als einzige der Schöpfung mitbekommen haben.

Hinterfragen tut weh, wenn man entdeckt, einiges falsch gemacht zu haben. Aber tun wir nicht immer unser Bestes, das, was wir können, was nicht zuvor von denen, die nicht hinterfragen kaputt geschlagen wurde? Sind wir sanft mit uns selbst. Schauen wir unsere Taten und ihre Unterlassungen an. Nehmen wir den Schmerz auf uns, in der Gewissheit, dass er vergeht und uns frei macht für Besseres, Menschenähnlicheres, weil wir gewagt haben zu zweifeln.

„Ich habe Angst“ so heißt ein Kapitel, in dem das Mädchen von den Geschichten über Hexen und andere Gestalten spricht. Auch der Leib Christi und sein Blut, dass zum Abendmahl kredenzt wird, bereitet ihr Angst und Unbehagen und keiner derer, die ihr erklären könnten, ist bereit dazu. Lästig, lästig die Fragen, die Ängste, das Anklammern eines verunsicherten Kindes, welches mit ein wenig Verständnis, Bereitschaft zur Aufklärung und der bereits erwähnten Selbstreflektion beruhigt und liebevoll begleitet werden könnte.

Das Mädchen, an dessen Seite wir mit unserem Lesen stehen, hat nicht nur Angst. Es lebt in seiner kindlichen Welt allein und sorgt für sich so gut es kann und das ist beachtlich gut! Trotz Einsamkeit, Schuldgefühlen und großer Unsicherheit macht es sich sehr praktische Gedanken ums eigene Überleben. Hut ab, ich könnt´s nicht besser

„Schneck, Schneck, komm heraus,
Strecke deine Fühler aus –
Zeig sie nur, du kleines Ding
Und komm aus dem Haus geschwind.“
Warum lernen einen die Erwachsenen solche Lieder, wenn sie dann
die Schnecken töten und aufessen?
„Erwachsenen sind ja so gemein und hinterlistig. Immer sagen sie zu Kindern und Tieren: komm, komm, komm, – ich tu dir nichts. Und wenn man dumm ist und kommt, tun sie einem bestimmt was.“
Tja, und dann glauben sie einem auch nie, egal, was man sagt, und am wenigsten glauben sie einem, wenn man die Wahrheit sagt.

„Streiche und Abenteuer eines Mädchens, das nicht bereit ist, die Welt einfach so zu akzeptieren, wie sie angeblich ist.“
Angehörige aller Altersgruppen werden an diesem ironisch-witzigen Text ihre Freude haben“, so schreibt es die Neue Zeit, Graz.
Um nicht die gleichen, im Buch geschriebenen und von mir hervorgehobenen Erwachsenenfehler zu begehen, möchte ich dem Ironisch-Witzig ein kleines wehmütiges Traurig-Einsam hinzufügen, welches mir keinesfalls die Freude und vor allem nicht das große fühlende Begleiten eines kleinen Menschenkindes in der Literatur nehmen konnte.

1980 Claassen Verlag, Hildesheim
ISBN: 3-546-45373-5
Erstveröffentlichung 1936