„Mein Mutter der mich schlacht, –
mein Vater der mich ass, –
mein Schwester der Marlenichen –
sucht alle meine Benichen, –
bringt sie in ein seiden Tuch, –
legt´s unter den Machandelbaum. –
Kiwitt, kiwitt, wat vör´n schöön Vagel bün ick!“
Dieser, dem grimmschen Märchen vom Machandelbaum zugeordnete Vers, taucht häufig auf im Roman von Regina Scheer – manchmal im Hochdeutschen, manchmal auf Plattdüütsch und manchmal auch nur erahnt im Erzählten.
Die Mutter schlägt ihm den Kopf ab, vom Vater wird er gefressen – und trotzdem aufersteht er als Phönix aus der Asche, mit einem Jubellied auf den Lippen.
Clara, die unumstrittene Heldin dieses Zeitzeugnis´, verliebt sich in einen „Katen“ in Machandel und kann das Häuschen unter bestimmten Renovierungsauflagen und mit der Fürsprache des Bürgermeisters für sich und ihre Familie erwerben.
Nicht nur der Katen, das gesamte Dorf, irgendwo ´jwd` erzählt seine Geschichte, die Geschichte von Krieg und niemals Frieden.
Zusammen mit Clara, die für ihre Dissertation das Märchen des Machandelbaumes ausgewählt hat, begegnen wir Natalja, die Ende 1941 als Ostarbeiterin zwangsrekrutiert wird. Wir treffen Marlene, die, weil nicht willig und plötzlich unbequem, als psychisch krank angezeigt und „weggeschafft“ wird.
Der Denunziant, der Denunziant
stellt Dich mit einem Finger seiner Hand
an die Wand. (wenn mich nicht alles täuscht, ist das ein Selfie von mir)
Und auch er lebt da, der Denunziant, immer noch und schnüffelt und denunziert weiterhin.
Aber man kann ihn in Schach halten, weiß einiges, – die Angst legt ihm Zügel an.
„Man begegnet sich immer zweimal…und manchmal muss man auch mit seinen Penigern leben“.
Auch die Familie rückt näher durch Claras Recherchen, näher als je im gelebten Leben.
Der Vater – schweigt. Zuviel erlebt. Rote Front Kämpfer. KZ Häftling.
Der Bruder – vermisst. Geflohen aus der DDR. Würden sie ihn wieder einreisen lassen?
Alte Zeitungen, Fotoalben, einzelne Notizen stellen das Material, aus dem Clara erfährt was geschehen ist – damals – in Machandel – im Krieg und danach und immer noch leben Protagonisten und Antagonisten hier. Mit Allem, was sie gewesen und immer noch sind und jeder weiß „…/ Wir alle sterben und werden zu Erde./ Kommt Geschwister und schaut in das Grab/ Vergangen sind Neid, Feindschaft, böse Worte/ und Begierde/ Schaut, alles verwandelt in Erde, Lehm und Asche.“
Gibt Clara sich damit zufrieden?
Was bedeutet die Aussage, Ausdenke von Herbert, dem Friedens- und Menschenrechtler?
Was meint es, wenn Clara „uralte Steine wieder zusammensetzt, die schon in der Erde geruht haben, verborgen und vergessen“? „Wir graben und wissen oft nicht, was wir aufrühren, manchmal erstickt das Vergangene die Gegenwart.“
„Dieser Apparat ist fast erstickt an den Informationen, die er in sich hineingefressen hat, sie haben nach den Feinden des Sozialismus gesucht und nicht erkannt, dass sie selbst es waren.
Ihr Opfer bin ich nicht.
Die Spitzel sind ihre Opfer, denen Niedertracht und Gemeinheit abverlangt wurden, deren Schwächen benutzt wurden, die in diesem Apparat ihren Halt sahen.“
2014 Albrecht Knaus Verlag München